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Mauerfall-Jubiläum Berlin erinnert, Berlin jubelt

Tagsüber besinnlich, abends Volksfest: Hunderttausende Menschen feiern in Berlin das Mauerfall-Jubiläum, über dem Himmel der Stadt schweben Ballons der "Lichtgrenze". Das moderne Gedenken ist erstaunlich gut gelungen.

Berlin - Der Augenblick, in dem sich die ersten Ballons lösen und in den Himmel steigen, ist ein ganz besonderer. Das Brandenburger Tor strahlt in warmen Farben, Daniel Barenboim dirigiert Beethovens 9. Symphonie mit der "Ode an die Freude", Zehntausende Menschen jubeln und klatschen.

Durch die Hauptstadt zieht sich ein Band weißleuchtender Heliumballons, die Meter für Meter befreit werden und noch ein paar Sekunden glimmen, bevor sie davonfliegen. Berlin hat am Sonntag eine spektakuläre Kunstaktion erlebt, einen Moment des gemeinsamen Erinnerns - und eine große Open-Air-Party.

Als Lichtkette am Boden sollten die Ballons an die Teilung Berlins erinnern, das Lösen der "Lichtgrenze" symbolisiert den Fall der Mauer. Beim Anblick der schwebenden Ballons drängt sich aber noch ein weiterer Gedanke auf: Selten fühlte sich ein Gedenktag in Deutschland so leicht an wie dieser.

Die Stimmung in Berlin glich der Atmosphäre im Sommer 1995, als Christo und Jeanne-Claude den Reichstag verhüllten. Trotz des Bahnstreiks und eines Temperatursturzes reisten Hunderttausende in die Hauptstadt, bestaunten die Lichtkugeln entlang der Grenze und schwelgten in Erinnerungen an den Tag des Mauerfalls vor 25 Jahren.

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25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin: Jubel zum Jubiläum

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Auch die Politprominenz versuchte, Ernst und Freude zu kombinieren. "Träume können wahr werden. Nichts muss so bleiben wie es ist", sagte Angela Merkel bei ihrer Rede zum Mauerfall-Jubiläum. Zugleich verurteilte sie die "Mauern der Diktatur, der Gewalt, der Ideologien, der Feindschaften" in der Welt.

"Bevor wir auf den Straßen getanzt und 'Wahnsinn' gebrüllt haben, waren wir eingehüllt in unsere Ängste", sagte Bundespräsident Joachim Gauck. Bei vielen Reden war die Mühe spürbar, der Opfer des DDR-Regimes zu gedenken - und sich über den Fall der Mauer glücklich zu zeigen.

Den besten Job im kollektiven Gedenken erledigte aber die Hauptstadt selbst. Ein modernes Erinnern, entstaubt und frisch, gelang erstaunlich gut. Das Flugverbot über dem Stadtzentrum wurde gelockert, damit ein Flugzeug Aufnahmen von der Lichtgrenze machen konnte. Unter dem Hashtag #fotw25 ("Fall of the wall 25") twitterten Menschen Fotos, vor dem Brandenburger Tor gab es praktisch drei Tage lang Volksfest. Eine Geschichte zum Mauerfall dürften die meisten Besucher zu erzählen gehabt haben, egal ob aus Ost oder West.

Die Lichtballons wurden schnell zur Mitmach-Kunstaktion: Wer persönliche Erinnerungen an den Mauerfall hatte, heftete kleine Notizen an die Halterungen. Wer mit Ost-West-Geschichte wenig anfangen konnte, knipste immerhin ein Selfie vor der Lichtkette. Einwohner und Touristen spazierten am Mauerverlauf entlang oder verabredeten sich zum Freiluftspektakel. Am Abend glich die Stadt einer großen Feierzone (sehen Sie hier die besten Bilder).

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Gorbatschow spricht von einem neuen "Kalten Krieg"

Doch in die lockere Stimmung mischten sich auch kritische Töne. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnte vor Panikmache in der Flüchtlingsfrage und neuen Grenzen in Europa.

Der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow - am Nachmittag beim Festakt, und am Abend vor dem Brandenburger Tor minutenlang gefeiert - erhob schwere Vorwürfe gegen den Westen. "Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen", sagte er mit Blick auf den Ukraine-Konflikt. Gorbatschow wird am Montag von Merkel im Kanzleramt empfangen.

Doch überwiegend ist dieser Tag ein Anlass zum Feiern. Als sich am Brandenburger Tor ein einsamer Ballon nicht lösen will, gibt es statt Häme spontanen Applaus und aufmunternde Rufe. Allerdings verfolgen Merkel, Gauck und Gäste, eingehüllt in Wolldecken, das Bühnenprogramm von einer Tribüne aus, mit einigem Abstand zum Bürgerfest. An dieser Stelle hätte etwas mehr Volksnähe gut getan.

Trotzdem wird dieses Jubiläum wohl länger in Erinnerung bleiben als etwa der zehnte Jahrestag 1999. Damals hatte das Land viel mehr als heute mit den Problemen der Nachwendezeit zu kämpfen. Die Arbeitslosigkeit im Osten war hoch, das Gefühl der Perspektivlosigkeit weit verbreitet. Heute steht Deutschland im europäischen Vergleich wirtschaftlich ziemlich gut da, an der Spitze des vereinigten Landes stehen mit Merkel und Gauck zwei Ostdeutsche. Berlin, die einst geteilte Stadt, ist inzwischen so etwas wie ein Sehnsuchtsort junger Europäer geworden.

Das nächste große Mauerfall-Jubiläum steht erst wieder 2039 an - zum 50. Jubiläum. Doch anders als heute werden sich dann die meisten Deutschen an den historischen Tag gar nicht mehr erinnern können. Die Feiern dürften dann endgültig nicht mehr sein als ein wiederkehrendes Ritual.

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Mauerfall-Ballons in Berlin: Eine Stadt strömt zum Licht

Foto: Lukas Schulze/ dpa
mit Material von dpa